Das Finanzgericht Münster hatte zu entscheiden, ob die Bildung einer Rückstellung für die drohende Rückzahlung von aufgrund des verfassungsrechtlichen Streits über die Höhe des Zinssatzes vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen rechtmäßig war (Az. 9 K 615/24). Streitig war, ob mit Blick auf das damals anhängige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für Nachzahlungszinsen eine Inanspruchnahme des Klägers wegen einer etwaigen Rückzahlung vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen drohte und der Kläger deshalb eine Rückstellung bilden durfte.
Es sei zwischen der Wahrscheinlichkeit des Bestehens einer Verbindlichkeit und der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme zu unterscheiden. Das Bestehen sei (nur) anhand der rechtlichen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage zu prüfen. Die anhand der Umstände des Einzelfalls anzustellende Prüfung könne ergeben, dass ein Bestehen unwahrscheinlich ist. Das rechtliche Bestehen sei überwiegend wahrscheinlich, wenn nach allen am Bilanzstichtag objektiv gegebenen (und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren) Umständen mehr Gründe für als gegen das Bestehen der Verbindlichkeit sprechen. Ob der Gläubiger den Steuerpflichtigen in Anspruch nehmen wird, sei davon unabhängig zu prognostizieren. Bei zivilrechtlichen Ansprüchen sei regelmäßig von der erforderlichen Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme auszugehen, wenn und solange ein Klageverfahren gegen den Steuerpflichtigen läuft und kein abweisendes oder nur mit offensichtlich unzulässigen Rechtsmitteln angreifbares Urteil vorliege.
Wenn ein zivilrechtlicher Anspruch gegen den Steuerpflichtigen im Wege einer Klage verfolgt wird, die nicht offensichtlich unzulässig, dem Grunde oder der Höhe nach willkürlich oder erkennbar nur zum Schein angestrengt worden ist, und zum Bilanzstichtag keine weiteren objektiven Anhaltspunkte vorliegen, die eine genauere Prognose ermöglichen, kann diese Klage schon für die Bildung einer Rückstellung ausreichen. Denn regelmäßig sind für den Ausgang des anhängigen Gerichtsverfahrens mehrere nicht zuverlässig zu prognostizierende Prozessereignisse entscheidend, wie etwa das Ergebnis einer Beweisaufnahme, das Verhalten des Prozessgegners oder wie das Gericht über komplexe oder umstrittene Rechtsfragen entscheiden wird. Weitere gewichtige objektive Umstände (z. B. ein von fachkundiger dritter Seite erstelltes Gutachten), die gegen ein Unterliegen im Prozess sprechen, sind aber im Rahmen der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen. Diese für bestrittene zivilrechtliche Ansprüche geltenden Grundsätze können entsprechend auf streitige Steuerforderungen angewendet werden, weil bei der Behandlung zivil- und öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen dieselben materiell-rechtlichen Grundlagen und dieselben Anforderungen an die Sachaufklärung und Überzeugungsbildung der Tatsacheninstanz gelten. Nach dieser Maßgabe durfte der Kläger im Streitfall die begehrte Rückstellung nicht bilden.
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